Clownsberichte aus Hohenstücken 2012

So viel gibt’s zu erzählen. Wo fang ich an? Wo hör ich auf? Es sind Lebensgeschichten, Anekdoten, Schicksale. Clowns begegnen Menschen in schweren Lebenslagen. Wenn die Clowns da sind, verschwindet die Schwere oft.

Einblicke möchte ich geben und ich wähle drei Geschichten, wie sie in der HELIOS Klinik Hohenstücken – einer neurologischen Reha-Klinik für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene – passieren, für Euch aus. Eine, die so verläuft wie viele, Leni. Eine die noch trauriger ist als andere, Anna. Und eine mit „Happy End“, Mario – beeindruckend, wie er ins normale Leben zurückgefunden hat.

Schräg gedruckt sind die Informationen, die wir in den Übergaben vorm Clownsbesuch erhalten haben sowie die Anmerkungen von uns und den Beobachterinnen, die unsere Arbeit im letzten Jahr zusätzlich dokumentiert haben. Gut, dass es Zeugen gibt! Der Blick von außen ist wertvoll. Ihre Beobachtungen sowie das Schreiben der Berichte verdeutlichen auch mir selbst erneut, dass es eine sinnvolle Arbeit ist, die wir Klinikclowns da tun. Wobei ich beim Schreiben bemerke, dass es mir leichter fällt, als Clown in Aktion zu sein, als davon zu berichten. Etwas tun zu können, auch wenn es Kleinigkeiten oder Absurditäten sind, ist beglückend. Davon zu berichten, bedeutet einen Perspektivwechsel, durch den sich mir einmal mehr die Frage aufdrängt, wie es die Betroffenen, die Angehörigen sowie die Mitarbeiterinnen des Hauses und schaffen, mit den Schicksalsschlägen ihrer Kinder, Eltern, Partner oder Patienten zurecht zu kommen. Ich werde Julia, eine unserer BeobachterInnen bitten, diese Frage in ihren Untersuchungen zu berücksichtigen. Ich weiß es nicht, aber ich hoffe zutiefst, wir Clowns sind in irgendeiner Weise eine Unterstützung für die Menschen in diesen unvorstellbaren Lebenslagen.

Von ganzem Herzen und im Namen aller, denen die Clowns Freude bringen, möchte ich mich hiermit für die Unterstützung unserer Sponsoren bedanken: Danke, dass Ihr da seid! Für uns ist Eure Kraft, Euer „Spot“, eine Art Legitimation, unsere Arbeit zu tun. Es ist wichtig, dass Ihr sie/ihn dorthin schickt, wo wir in unserer modernen westlichen Welt normaler Weise solange nicht hin sehen, bis wir selbst in der ein oder anderen Form betroffen sind. Dieser „tote Winkel“ unserer Gesellschaft, in dem gepflegt, gelitten, gestorben, gekämpft und therapiert wird, kann nicht genug Aufmerksamkeit bekommen, denn dort wird vor allem gelebt.

HERZLICH HEITEREN DANK!

Leni

Februar 2012. Eine Schwester eilte an Hella Propella vorbei und sagte: „Hach, schön wär ́s für Leni auch, aber es geht noch nicht!“ Leni wird bald fünf. Sie badete mit ihrem Bruder. Der Fön fiel in die Wanne. Ihrem Bruder ist dabei nichts passiert. Aber Leni hatte Kammerflimmern. Die Oma holte sie zurück. „Laienreanimation“ heißt das in der medizinischen Fachsprache. Der Notarzt kam. Einige Zeit verbrachte Leni in einer Akutklinik. Nun hat sie noch Unruhephasen ist aber stabil hier in Hohenstücken auf der Station „Frühreha“. Wohin wird die Frühreha für Leni führen? Wie wird ihre zukünftige Normalität sein? Niemand kann das wissen.

Im März ist ihre Haut am ganzen Körper rot. Sie hat Schmerzen, ist unruhig und weint viel.

Die Clowns kommen immer wieder zu ihr ans Bett. Sie spielen Sansula, Ukulele, singen den „Lenisong“, legen die Hände auf Schulter und Stirn, reden ruhig mit ihr. Leni hält inne. Ihre Unruhephasen sind unterbrochen.

April. Leni wird verlegt auf die Station drei. Das heißt, es geht ihr besser und die Clowns können nicht mehr ganz so oft kommen, weil sie bei jedem ihrer Besuche auf die Frühreha und danach auf eine der Stationen 1, 2 oder 3 gehen.

Was heißt das für Leni? Es geht ihr besser. Sie ist ruhiger, wacher, sitzt im Rollstuhl. Um sie herum ist Leben. Sie hat Besuch von ihren Geschwistern und der Mama.

Hella Propella stolpert in die Küche. Sie muss erst mal was trinken. Gusti und seine Mama – auch alte Bekannte von der Frühreha – stoßen an, schäkern. Gusti liebt Hellas Mundharmonika. Sie spielt für ihn. Er lächelt. Sie werden bald nach hause gehen. „Tja Mama, ich glaub Du musst Mundharmonika spielen lernen!“ „JAHAHAHA“. Als Hella in den Multiraumraum kommt, läuft gerade „Mach neu“ von Peter Fox. „Oh, soll ich lauter machen?“ Die Jugendlichen nicken. Ein Blick zu Lenis Familie: „Nicht zu laut“. Plötzlich herrscht Partystimmung. Tanzen. Mitsingen. Jede/r wie er/sie kann. Aber mit dem Radiohit soll die Party noch nicht zu Ende sein. Die Jugendlichen wollen mehr. Hella auch. Sie fragen, ob Hella was von Culcha Candela dabei hat. Ein Griff in den Koffer und sie hat das Cd- Booklet der aktuellen Scheibe in der Hand. „Ehj Girl …“ etc. Hängen bleibt Hella bei dem Lied „Für heute ist jeder n König und jeder ne Königin …“ Damit geht sie auch zu Leni, ihrer Mama und den Geschwistern. Sie singt das gleiche einfach weiter nur ruhiger. Dazu spielt sie die Sansula, die Leni so mag und schenkt ihr einen Schmetterlingsaufkleber. Im Schwesternzimmer geht’s lustig weiter. Hella lässt die verspannten Knochen der Schwestern knacken. Dafür legt sie ihre Hände auf Schulter und Arm einer Schwester. Sie atmet tief ein und aus. „KNAAACKSSSS“, ein versteckter Plastikbecher zerbricht. Hella lüftet das „Geheimnis“, Erleichterung, Gelächter und alle haben „Knacksbedarf“. Eine muss telefonieren. Hella glaubt, am Telefon sei der Osterhase und will ihn dringend sprechen, da sie sich ein sechsrädriges Auto zu Ostern wünscht. Die Schwestern und auch der Osterhase am anderen Ende lachen sich kaputt. Hella lässt sich nicht beirren: „Wenn ich das finde, lad ich Euch ein zu `ner Spritztour!“

Im Juni. Hella und Nono treffen Leni im Flur vorm Fahrstuhl. Ihre Familienbegleiterin ist dabei. Nono spielt Akkordeon. Hella jongliert mit Tüchern. Leni versucht den Tüchern mit ihren Augen zu folgen. Sie lächelt und hat Hände entspannt im Schoß, die sie vorher unentwegt in ihrem Mund zu bekommen versuchte. Dann singt Hella wieder „Für heute ist jeder ́n König

und du bist die Königin“ und nimmt Lenis Hände in ihre und bewegt ihre Arme hoch und hin und her, das gefällt Leni sehr, sie verfolgt mit den Augen die Bewegung ihrer Arme. Mit Ende der Musik und Berührungen hat sie wieder die Hände zwanghaft im offenen Mund.

August 2012. Hella ist auf dem Flur der Station 3 hängen geblieben, weil sie anfing Luftballontiere zu knoten und dann natürlich alle eins wollten und bekommen sollten. Was sich nicht ganz einfach gestaltet, weil Hella alle Farben und Tiere durcheinander bringt. Eine Schwester, die auch schon einen Ballon bekommen hat, holt Leni dazu. Leni ist ganz aufgeregt und sie lacht! Zum ersten Mal antwortet Leni mit „ja“, „nein“ und „ich glaube schon“ auf Hellas Fragen. Sie will einen gelben Hund! Leni freut sich riesig über den Ballon und drückt ihn ganz fest, so das er fast platzt. Das findet sie sehr lustig. Sie will den Ballon immer wieder feste drücken. Hella bekommt ihren Mund vor Staunen und Freude, Leni so zu erleben, kaum mehr zu.

Oktober 2012. Lenis Papa ist da. Die Eltern haben sich getrennt. Ihre Mutter und ihre Geschwister waren schon 4 Wochen nicht da. „Man merkt es ihr schon an.“ Erzählt uns die Schwester während der Übergabe. Puh. Lenis Familie ist damit nicht allein, ein schwacher Trost! Es ist schwer für die Familien. Manche rücken enger zusammen, manche gehen auseinander.

Leni freut sich als Lala Leika und Hella Propella ins Zimmer kommen. Sie bewundern erst mal das Riesenbett und begrüßen den Papa mit dem Raketengruß. Leni freut sich so, dass sie Hella entgegen krabbelt und beinah rausfällt. Hella fängt, hält sie auf. Sie tanzen. Der Vater amüsiert sich über Lala Leikas Frosch am Po, der nicht quakt, sondern quietscht. Was ist hier nur los? Dann übergibt Hella Lala Leika Leas Hände. Sie weiß was zu tun ist. Sie bastelt einen Quietscheschwan (Luftballontier) Leni ist völlig aus dem Häuschen, Lala Leika auch. Der Papa filmt alles. Ich werde ihn fragen, ob wir das mal sehen und vielleicht sogar Euch zeigen dürfen.

Anna

Anna ist 16 Jahre alt. Durch einen Verkehrsunfall erlitt sie ein Schädelhirntrauma 3. Grades. Sie liegt im Wachkoma, hat Unruhe- und Powerphasen. Ihre Herzfrequenz ist manchmal höher als 200. Die Karlotten wurden ihr rausgenommen. Insgesamt ist Anna sehr schwer betroffen.

02.02.12 Bei der Übergabe treffen wir die Vereinbarung, dass wir unmittelbar bevor wir reingehen könnten, die Schwestern fragen, ob ein Clownsbesuch gerade passt oder nicht.

Es passt nicht.

Eine Woche später als Nono und Hella Propella Annas Zimmergenossin besuchen, winken sie dem Vater zu. Er signalisiert ihnen, dass sie nicht zu Anna und ihm kommen sollen. Hella klebt ihnen ungeschickt unauffällig ein pinkes Blümchen an den Raumteiler. Nono schiebt sie raus.

17.02.2012 Übergabeinformationen: „Anna „powert“, es ist nicht besser geworden, geh besser nicht hin!“ Während Hella auf der Frühreha ihr „Unwesen“ treibt, kommt eine Schwester auf sie zu und richtet ihr von Annas Papa aus, dass er es gern versuchen würde … Hella begrüßt den Vater und bedankt sich bei ihm. Vorsichtig nimmt sie Kontakt zu Anna auf, legt die Hände auf ihre linke Schulter und den Oberarm. „Hallo Anna, ich bin Hella …“ Sie erzählt ihr wer sie ist, was sie hier macht und von draußen, dass es wärmer geworden ist und heute einer der wenigen Tage im Jahr, an dem Winter und Frühling gleichzeitig ist. Sie singt: „Im Winter trägt der Regentropfen einen weichen Pelz aus Schnee, legt sich damit auf die Wiese, so tut ihr der Frost nicht weh. Im Frühling zieht der Regentropfen seinen Mantel wieder aus und als Dank für seine Wärme küsst ein Krokus ihn vorm Haus.“ Der Papa wünscht sich noch behutsames Klarinettenspiel. Wird gemacht! Die ganze Zeit beobachtet er die Zahlen am Bildschirm „90, 91, 92 …“. Wir sehen uns an und glauben, dass es sie erreicht. Er kommt zu Hella. Sie setzen sich auf den Boden und er erzählt von der bevorstehenden OP: „Am Kopf muss der Shunt erneuert werden und dann alles noch mal von vorn? Es ist Wahnsinn.“ Er weint. Es schüttelt ihn richtig. Hella hält ihn im Arm, bietet ihm was zu Naschen an. Er muss lachen, lehnt aber ab. „Ihr Ding wäre das“, zeigt hoch zu Anna, „aber mir wird schlecht davon.“ Hella spricht ihm Mut zu, erzählt von anderen, die von hier aus wieder Schritte ins Leben gemacht haben und schenkt ihnen einen großen Stern, „Denn gute Gedanken sind Sterne, die uns begleiten und dieser Stern ist für euch und soll euch gute Gedanken bereiten.“ Mit vielen guten Wünschen verabschiedet sie sich.

24.02.12 Anna ist in der Charité zur OP.
Im März ist sie kurz wieder da und dann bis Anfang April noch mal in der Charitè. 19.04.12 Übergabeinfos: Seit Dienstag Anna wieder da. Sie ist stabiler geworden!

Hella freut sich Anna wiederzusehen und singt wieder das Regentropfenlied … Wow, Vitamine und Hella staunen über Annas „Fußapparate“, an denen der Papa schraubt. Vitamine will das probieren, aber Hella sagt, sie solle ihre Schuhe anlassen, sie hätte Käsefüße. Vitamine behauptet Hella hätte Käsefüße und dreht Hella kurzerhand um, damit Anna Hellas Schuhe sehen kann. Hella ringt darum, wieder mit ihren Füssen auf den Boden

zu kommen. Als sie es geschafft hat, schiebt sie Vitamine raus. Sie verabschieden sich: „Wir klären das draußen!“ Der Papa grinst.

27.04.12 Hella und Nono waren bei Anna. Bestimmt haben sie Musik gemacht und bestimmt ist irgendwas passiert. Aber ich habe vergessen, es zu notieren.

10.05.12 Als Lala Leika und Hella Propella reinkommen, macht der Papa, der an Annas Bett steht, Platz für sie. Die beiden Clowns sind links und rechts von Anna und begrüßen sie sanft. Anna seufzt tief. Lala Leika und Hella singen und musizieren für Anna – ganz zart. Auf einmal kramt Hella ihre silberne fünf Zentimeter große Trompete raus, positionierte sich aufwendig, plusterte ihre Lippen: „Kein einfaches Instrument!“ Der Vater lacht und erzählt, dass er früher Fanfare spielte. Er erklärte den beiden Clowns, wie Fanfare spielen geht, für wen, mit wem und was er am liebsten spielte. Dann sangen sie seine Lieder mit ihm zusammen. Mehrstimmig! „Spaniens Himmel“ …, als sie gingen, blieb er genau so stehen und sang weiter.

Mai und Juni 2012. Annas Zustand hat sich stabilisiert. Sie ist insgesamt ruhiger geworden. Es gab viele kurze intensive Begegnungen, bei denen die Clowns aufgriffen, was im Raum war oder an das letzte Treffen anknüpften. Der Vater war fast immer dabei und wirkte immer sehr eingebunden in Annas Versorgung und ihre Therapien. Was Anna erreicht und was nicht bleibt unklar. Ihr Vater blickt immer wieder voller Hoffnung auf den Bildschirm, der die Herzfrequenz misst und nickt zustimmend. Annas sichtbare Reaktionen gehen über ein Seufzen, Verändern der Atmung und das Verfolgen mit den Augen nicht hinaus.

13.07.12 Annas Zustand ist unverändert. Heute ist sie allein. Vitamine ist schon vor Hella bei Anna. Sie nimmt Kontakt auf, körperlich und mit ruhiger Ansprache. Hella kommt dazu und Vitamine erzählt gerade vom Sommer draußen, während Hella rausguckt und sieht, dass es in Strömen regnet. Sie bewundert Vitamine für ihren starken Glauben an den Sommer. Vitamine singt: „Lachend, lachend, lachend, lachend kommt der Sommer über das Feld …“ Hellas Sommerhit muss auch noch sein: “Es ist Sommer. Vitamine hat das klar gemacht. Sommer ist, wenn Du trotzdem lachst. Sommer, Palmen, Sonne und Strand, Lavendel blüht am Wegesrand“. Hella hat Lavendel zum Schnuppern dabei. Hm.

09.08.12 Übergabeinfos: Der Vater ist da. Anna guckt wacher. Hella spielt für Annas Papa die kleine Trompete. Für Anna spielt sie ihre Sansula. Wunderschön. Beobachterin A.: „Anna schlägt kurz die Augen auf als Hella Propella kommt. Der Vater bleibt doch noch, obwohl er eigentlich weg muss. Er scheint sehr berührt und wirkt vertraut mit der Clownin.

Foto Sandy Hentschel

16.08.12 Übergabeinfo: Es geht aufwärts. Anna soll mehr sitzen. Hella begrüßt Anna ganz in Ruhe und hat den Eindruck, dass sie heute besonders aufmerksam ist und alles aufnimmt wie ein Schwamm. Sonst wollten wir immer ihr Interesse wecken. Heute war sie so präsent. Da merkte ich, Hella muss ihr was bieten … was mit Inhalt, was Poetisches … Hella entschied sich für die Liebe. Welches Mädchen interessiert das nicht?! Hella erzählt ihr das Liebesgedicht: „Ein Sperling und ein Elefant, die gingen beide Hand in Hand. Die Leute riefen, seht mal her, für den da ist der viel zu schwer. Doch als ein Jahr vergangen war, da war ́n sie immer noch ein Paar. Da war den Leuten ziemlich klar, dass das die große Liebe war!“ Während dessen steckt sie eine kleine Büroklammer (Sperling) und eine große Büroklammer (Elefant) an Papierschlaufen (Wiese). Während des Gedichts zieht Hella an den Enden der Papierschlaufen und die Büroklammern rutschen aufeinander zu. An der Stelle: „… dass das

die große Liebe war!“ hüpfen beide Büroklammern vom Papier hoch und verhaken sich in einander „… für immer.“ Beobachterin J.: Anna guckte Hella Propella sehr aufmerksam bei ihrem Trick zu. Der Vater wirkte sehr müde. Er machte die ganze Zeit irgendetwas und beobachtete die Clownin nicht. Erst, als sie den Trick noch einmal für ihn machte, guckte er zu. Er lächelte müde. Er wirkte zwiegespalten, als ob er nicht wusste, ob er sich über HP freuen sollte oder nicht. Anna reagierte leicht. Sie hob ihre rechte Hand etwas in Hellas Richtung.

23.08.12 Anna ist am Tag zuvor gestorben. Das erste was Hella heute tun wollte, war: ihren Vater treffen! Auf dem Weg zu ihm begegneten ihr viele „alte“ Freunde wie Engel, die ihr ihre „Normalität“ – Spaß, Musik und schöne Begegnungen abverlangten. H fragte an der Rezeption nach Annas Vater. „Ob das heut für ihn so gut ist?“, „Wir sind doch Freunde!“ Sie lief einmal quer durchs Haus zu seinem Zimmer und traf ihn schließlich in der Raucherecke. Jemand sagte zu Hella: „Komm zu meiner Tochter, sie hat Geburtstag!“, „Zu erst muss ich zu Annas Papa, der hat so was Ähnliches.“ Herr A. war froh, Hella zu treffen. Es war eine tiefe, stille Begegnung mit wenigen Worten und langen Umarmungen. H wünscht sich von ihm, dass er seine Fanfare wieder heraus holt. „Mal sehen. … Du weißt, wie ich denke, denk nicht drüber nach! Geh zu den anderen, die brauchen Dich!“ Dann öffnete sich Hella für die anderen in der Runde. Alle waren still und sahen sie an. Da sang sie: „Ich würd so gern mal fliegen können, alles mal von oben sehn, einfach durch den Himmel rennen und mal auf ner Wolke stehn“, zog ein weißes Tuch aus dem Koffer. Die weiße Wolke. Sie ließ sie schweben. Dann blies sie viele Regenbogenhäppchen (Seifenblasen). Auf einmal befand sich Hella in einer Wolke von Kindern, Geschwisterkinder der Patienten, die um sie herum sprangen, weil sie sich die „Regenbogenhäppchen“ schnappen wollten. Hella lief langsam umringt von Kindern los und blickte immer wieder zu Herrn A. zurück. Sie winkte ihm zu und dann ging sie schließlich … in tiefer Verbundenheit.

Beobachterin J.: Ich habe Anna letzte Woche kennen gelernt. Ich kannte sie kaum, doch ihr Tod hat mich sehr schockiert. Mich betrifft Annas Tod nicht persönlich, mich betrifft das Gefühl und die Stimmung, die mit dem Tod eines Menschen verbunden ist. Ich hätte nicht damit gerechnet, dem Tod auf diesen Stationen zu begegnen. Ich habe an diesem Tag aber noch deutlicher gemerkt, welch ein Geschenk Hella für die gesamte Station ist. Sie geht durch die Flure und es wird ihr so was zu gerufen, wie „Ah, die Sonne geht auf“, oder „Sieh mal, wer da ist“. Hella muss gar nichts machen und viele Leute, ob Eltern, Patienten, Schwestern, Putzfrauen oder Ärzte lachen. Und ein Lachen an einem Tag wie diesem ist wirklich das größte Geschenk. Auch für mich war Hella sehr wichtig, sie hat mir geholfen „dem Tod“ anders zu begegnen.

Mario und überhaupt ALLE

Mario war 24 Jahre alt, Chilene, studierte in Berlin, erlitt durch eine Streifzugverletzung eine Schädelbasisfraktur, war sehr schläfrig, aber erweckbar, konnte keinerlei Aufforderung befolgen. Im September 2011, als Hella ihn kennen lernte, begann er in den Therapien, das Essen und Trinken wieder zu erlernen. Er konnte sich über seine Augen verständigen und – wenn er zustimmte – nicken. Er ist Gitarrist und liebt klassische Musik.

Als Hella Mario zum ersten Mal traf, bekam er gerade Atemtherapie. Er soll pusten. Es strengt ihn sehr an. Hella will mitmachen. Sie muss sowieso mal wieder was für ihre Puste tun. Schließlich bläst sie einzelne tiefe Töne auf der Klarinette, klingt wie ein Schiff. Nach Ende der Therapie spielt sie auf der Klarinette ein Lied aus fernen Landen. Mario genießt es, die Therapeutin auch.

Hella traf ihn noch einige Male auf der Frühreha. Wenn er in seinem Zimmer war, sie anklopfte und fragte, ob sie ihn besuchen darf, durfte sie nicht! Wenn dann aber auf dem Flur was los war, kam er dazu. Mario behielt immer etwas Abstand zu allem. Hella flocht dann ins Geschehen immer die Klarinettenmelodie ein, von der sie wusste, dass Mario sie mag.

Januar 2012. Floppi und Hella kamen gerade auf die Station 2. Da lief ihnen Mario in die Arme. Mario konnte wieder laufen und sprechen. Das war für mich wie ein Wunder. Er war im „Durchgang“ – „Hirnorganisches Psychosyndrom“ heißt es in der Fachsprache, „…“. Hella flippte aus vor Freude, Mario wieder zu sehen. Er erinnerte sich nicht an sie. Hella erzählt Floppi und Mario alles und spielt das Lied, was sie immer für ihn gespielt hat, als es ihm noch schlechter ging. Floppi macht total toll südländische Bodypercussion dazu. Nun ist Mario völlig aus dem Häuschen, vom roten Sofa aus klatscht und wippt er mit. Plötzlich ist der Flur voller Jugendlicher, Kinder und Erwachsener. Neugierde, Kennenlernen, Schlagabtausch und Partystimmung. Hella gibt ihren neuen Rap mit Floppis Bodypercussionunterstützung zum Besten: „W W W W W Wir können alles machen, ja wirklich alles machen ….“. Hella und Floppi foppen sich gegenseitig. Hella schmeißt ́ne Runde Schokolade. Floppi will auch, trifft aber seinen eigenen Mund nicht, Hella ́s dagegen gleich beim ersten Versuch. Lachen. Und tschüßi!

Im Februar 2012. Mario geht es gut. Er ist sehr ehrgeizig in seinen Therapien, organsiert sich selbst, ist klarer und im Haus gut orientiert, draußen noch nicht. Er hat eine amnestische Aphasie. Das ist eine relativ leichte hirnorganisch bedingte Sprachstörung.

Heute sind Nono und Hella zusammen unterwegs. Nono ist Japanerin, sehr hübsch und frech und sie spielt supertoll Akkordeon. Nono und Hella sind gerade auf dem Weg zu Nina. Vor ihrem Zimmer treffen sie Mario und seinen Zimmergenossen. Dass das spannend wird, spürt Hella sofort sehr deutlich an ihrem Bauchgrummeln. Die gegenüberliegende Zimmertür geht auch auf und ein Mädchen im Rollstuhl mit ihrer Oma gucken neugierig heraus. Hella Propella ist auf einmal ganz aufgeregt. Sie stellt Mario Nono und Nono Mario vor. Mario als Musikliebhaber und Nono … Hella spielt in der Luft Akkordeon und sagt: „Die kann …“ Mario: „Akkordeon spielen?“ „Jaha!“, Hella will, dass sie ihr schönstes Lied für Mario spielen und stammelt verlegen: „aber das ist ein Liebeslied …“, sein Zimmergenosse weiß auch nicht so richtig. Cool ist das ja nicht. Aber Mario sagt: „Das ist überhaupt nicht schlimm!“ Nono

spielt. Hella singt: „Ja ljublju tebja heißt ich liebe Dich, die drei Worte nur, die verzaubern mich, ihre Melodie ….“ Mario ist begeistert. Sein Zimmergenosse verabschiedet sich und geht. Hella versteht das gut, sie zuckt mit den Schultern und winkt ihm hinterher. Mario aber hat Lust bekommen zu tanzen. „Oh, ich kann kein Walzer!“ stammelt Hella. Mario findet auch das wieder „… überhaupt nicht schlimm!“ Also los. Sie singen, tanzen, stolpern, spielen, lachen … Nono meint, sie könne noch einen Walzer!? Hella aber kann nicht mehr. Sie ist verlegen, taumelig, zu schön war das … Auf der Suche nach irgendeiner Fortsetzung, wollte Hella gerade für die Oma mit dem alten Schinken „Du liegst mir am Herzen!“ weitermachen, da spielt Nono am Ende des Flurs die „Amelie-Melodie“ für Marlene. Und eine Schwester am anderen Ende des Flurs ruft: „Mario, hol die Gitarre!“, Hella geht zu Marlene, die wie angewurzelt dasteht, nimmt sie an die Hand und holt sie und Nono mit zu den anderen. Hella bietet Marlene alles mögliche an, Tücher zum Tanzen, eine kleine Rassel, die sie ihr für den Fall der Fälle in die Hosentasche steckt, auch einen Stuhl zum Hinsetzen, aber sie will einfach nur da stehen. Hella ist baff. Das Mädchen im Rollstuhl nimmt die Tücher gern. Mario steht mit seiner Gitarre da. Ihm gibt Hella den Stuhl, sich selbst die Klarinette und setzt sich auf ihren Koffer. Nono bringt Mario und Hella „Amelie“ bei. Sie musizieren zusammen, wunderschön und ganz in Ruhe. Nono sorgt, dafür dass sie langsam, leise, laut, schnell und so was alles zusammen spielen und eine wunderschönes Ende finden. Danach ist es still und alle sind sehr berührt. Draußen fällt Schnee. Die Clowns staunen, wie toll Marlene einfach da sein und zuhören kann. Die Oma fragt die Clowns, woher sie kommen. Hella muss erst mal nachdenken, um wieder in die Wirklichkeit zu kommen: „hmmm …………… Potsdam und ihr?“ „Oh von weit her, Helmstedt.“ „Oh, das ist weit.“ „Und Du?“ zu Mario, „Chile“, „WOW!“ von allen. Nono legt sofort mit ihrem Spanisch los. Mario freut sich. Glück liegt in der Luft und wird von allen inhaliert …

Nono und Hella wollen noch zu Nina, auch einer alten Freundin von der Frühreha. Aber sie schläft. Vielleicht hat sie die Musik und die Stimmung vom Flur trotzdem erreicht. Sie pusten sie mit ein paar Traumblasen ins Zimmer.

Nach endlosem Winken und Glücksblasen verpusten gehen sie weiter.

Im März 2012 – Mario ist immer in Aktion, im Haus gut orientiert, draußen nicht – traf Hella Mario noch einmal zusammen mit ihrer Freundin Lakritze im Multiraum. Lakritze und Hella sangen für Nina „Alle Vögel sind schon da“ stereo von links und rechts, zweistimmig, kunstvoll und von vorne bis hinten. … nur beim allerletzten Ton gerieten sie wieder durcheinander. Herrje. Mario, Dani, Toni und Samuel grinsen. Lakritze lenkte mit ihrer Pupsmaschine ab und das nahm kein Ende mehr. Samuel lacht sich kaputt. Hella wusste nicht so richtig … Ihr war es totpeinlich! Sie wollte, dass Lakritze aufhört. Aber als sie die Pupsmaschine selbst in die Hand bekam, fing es auch ihr an Spaß zu machen. Samuel aber konnte es am besten und brachte Lakritze ständig in peinliche Situationen. Hella ließ die Beiden machen und blieb bei Dani, Nina und Mario, spielte Mundharmonika, sang „Kommt ein Vogel geflogen, setzt sich nieder auf mein Knie. Hat ein Zettel im Schnabel. Darauf steht, ich pupse nie!“, Toni lacht: „Ihr seid in Ordnung!“ Mario genoss die Situation. Zu gehen, fiel ihm schwer, aber er musste zu seiner nächsten Therapie. Lakritze und Hella blieben noch.

Im April 2012 ist Mario zu seiner Familie nach Chile zurück gegangen.
Von Mario gibt es kein Foto, aber viele wunderschöne Bilder in den unseren Clownsherzen.

So wie auch von den vielen Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen aus der Klinik in Hohenstücken: Stefan z.B., ein Familienvater und Bauer mit großen starken Händen, den wir sehr oft trafen. Einmal als Hella und Herr Ferrari bei ihm waren, musste er richtig lachen, weil Hella inbrünstig ein Lied aus dem Dschungel für ihn sang und Herr Ferrari hätte es auch gern gesungen, aber irgendwie ging es nicht. Es war total komisch. Den Dreien liefen Lachtränen. Stefan lebt in einer „Intensiv-WG“ noch immer im Wachkoma.

Wir teilen so viele unterschiedliche, lustige, berührende, beruhigende, liebevolle, poetische, absurde Erlebnisse mit Christina, Nursen, Benjamin, Umut, Dennis, Jessica, Marina, Moritz, Arthur, Paul, Erik, Micha, Franziska, Anne und Maja, Elif, Cathi, Gusti, Robert, Christoph, Ahmed, Danielle, Darwin, Olga, Jonny, Matthias, Luana, Mark, Fabian, Lucas, David, Tom und Claudi und mit noch vielen mehr. Von allen würde ich gern wenigstens die Highlights berichten. Aber das ist nicht zu schaffen. Wichtiger als davon zu berichten, ist es schließlich da zu sein als Clown, Clownin, Clowns und immer neue Augenblicke zu erleben mit allen, denen wir in der Klinik begegnen in welchen Situationen auch immer.

Foto Sandy Hentschel

Schließlich sind wir große Fans der Patienten, der Mütter, Väter, Lebensgefährten, Geschwister, Freunde, die ihre Liebsten begleiten und unterstützen so gut es geht und große Fans von der ganzen Klinik und all ihren engagierten MitarbeiterInnen, den PraktikantInnen, Rezeptions-, Putz- und Küchenfeen, den Technikern, den Pflegenden, Therapeuten, Ärzten, Chefs und Chefinnen. Ihr wisst das ja, aber das ist die Gelegenheit, es ganz offiziell zu sagen: Wir sind Eure Fans! Und wir sind sehr dankbar und auch ein bisschen stolz, dass Ihr uns so toll aufnehmt und dass wir 2012 in Eurem Gefüge kontinuierlich mitarbeiten durften – Dank der Unterstützung von Culcha Candela, der HELIOS-Klinik Hohenstücken und dem Bagut e.V., DANKE!

Eure Hella Propella und die Potsdamer Klinikclowns

Melissa ́s letzter Tag in der Klinik. Heute ist sie der Star.

Foto Sandy Hentschel
Foto Sandy Hentschel
Foto Sandy Hentschel
Foto Sandy Hentschel
© 2024 Nicola Streifler | Ernsthaft Heiter